Überholverbote – Gemeinderat begrüßt schnelle Umsetzung

Seit dem 23. März tauchen in Stuttgart immer mehr der Überholverbote für einspurige Fahrzeuge auf, die die Novelle der Straßenverkehrsordnung vorsieht. Diese Verbote machen es für Autofahrende unmissverständlich klar, dass sie Radfahrende an besonders gefährlichen Stellen nicht überholen dürfen. Autofahrer müssen beim Überholen immer mindestens anderthalb Meter Abstand zu Fahrradfahrern halten, besser sind zwei Meter. Diese Werte sind aktuell nicht gesetzlich vorgeschrieben, jedoch durch die Rechtsprechung vorgegeben. Aber auch das kommt mit der neuen StVO.
Da die Stadt Stuttgart in der Vergangenheit Schutzstreifen so auf die Straßen pinselte, dass sich Autofahrende dazu verleitet sehen, gefährlich eng zu überholen, helfen diese Schilder nun, die einst gemachten Fehler zu korrigieren. “Wo es keine sicheren Radwege gibt” kommentiert Alexander Kotz, der Fraktionsvorsitzende der CDU im Gemeinderat süffisant in Richtung des grünen Baubürgermeisters Peter Pätzold, dürfe er Radfahrende nicht so fahrlässig in gefährliche Situationen bringen. “Besser wäre natürlich gleich etwas Gescheites einzurichten und endlich den vom Radentscheid Stuttgart definierten Stuttgart Standard umzusetzen.” ergänzt er. Aber damit sei wohl nicht vor der anstehenden Oberbürgermeisterwahl zu rechnen. Am Telefon bestätigte der Oberbürgermeisterkandidat der CDU Frank Nopper “Mit mir wird es keine halben Sachen mehr geben. Ich erwarte von meiner zukünftigen Verwaltung, dass sie schnell zu Lösungen findet und vor allem zielstrebig in die Umsetzung geht.” Dass die Stuttgarter Verwaltung nun sogar der Bundesregierung zuvor kommt zeige ihm, dass dort vieles ganz gut funktioniere. “Aber ich will es gleich richtig machen. So eine Flickschusterei wird es mit mir nicht geben. Ich will echte Fahrradstraßen, ohne diese Notlösungen oder gleich richtige Radwege. So breit dass da ein gescheiter Daimler drauf parken kann.” Das dürfe man aber dann natürlich nicht, erklärt er noch zügig, bevor er sich wieder dem Coronavirus in Backnang zuwendet. “Das ist jetzt leider wichtiger.”

Wie angsteinflößend die Überholvorgänge tatsächlich sind zeigt dieser Twitteruser in einem Zusammenschnitt mehrerer Videos aus seinem Stuttgarter Fahrradalltag.

Susanne Scherz, die Leiterin der Stuttgarter Straßenverkehrsbehörde, erklärt: “Wir hatten uns damals blind auf die Empfehlungen für Radverkehrsanlagen verlassen. Die sind der bundesweit anerkannte Minimal-Standard, nach dem Radwege in Deutschland geplant werden.” Heute müsse man anerkennen, dass das ein Fehler gewesen sei und man von Anfang an viel mehr selber gestalten müsse, als sich auf autogerechte Planungsvorgaben zu stützen. Nun freue sie sich über den neuen Stuttgart Standard, der auch über die Grenzen Stuttgarts hinaus das Radfahren einfacher und sicher machen werde. “Wir haben uns damit nicht leicht getan. Die Formulierung haben uns alles abverlangt” erzählt sie von den intensiven Runden mit Gemeinderat und sachkundigen Einwohnerinnen. “Aber so ist das nun mal, wenn wir für alle das beste wollen und nicht einfach nur Radwege, die ausschließlich dem Autoverkehr nützen.” Das sei gelungen und sie ist sicher:  “Vom Stuttgart Standard werden auch Karlsruhe und Freiburg profitieren!”.

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Bei den Grünen hingegen gibt man sich zerknirscht. Dr. Christine Lehmann, die den Radentscheid von Anfang an als Stadträtin und Bloggerin begleitete, sagte frisch in die Videokonferenz eingewählt “Es wäre tatsächlich mehr drin gewesen. Das muss man sich mal vorstellen: vor einem Jahr haben uns über 35.000 Menschen mit dem Radentscheid einen ganz klaren Auftrag gegeben und das beste was wir bisher auf die Straße gebracht haben ist etwas Farbe.” Der erst kürzlich für die Mercedesstraße beschlossenen Radstreifen sei so schmal, dass Radfahrende quasi vom Rad gepustet würden, wenn die Lkw dort mit 50km/h und mehr vorbei donnerten. Peter Pätzold, als Baubürgermeister zuständig für die Infrastrukturplanungen in Stuttgart, pflichtete ihr bei “wir machen jetzt alles anders und besser. Noch bis Ende 2019 werden wir 20 Fahrradstraßen einrichten! Und wenn das nicht mehr gelinge – immerhin hängen wir dem Zeitplan schon etwas hinterher – dann schaffen wir das auch trotz Corona in 2020.” Auf jeden Fall würden auf der Theodor-Heuss-Straße noch diesen Sommer beidseitig geschützte Radwege eingerichtet. Vier Meter sollen sie breit werden, “dann kann im Stadtzentrum mit nur noch geringem Ansteckungsriskio Fahrrad gefahren werden. Auch das Überholen ist dann kein Problem mehr.” Zum Schluss schaltet sich Veronika Kienzle, die Oberbürgermeisterinnenkandidatin der Grünen und aktuell Bezirksvorsteherin in Mitte, zu: “Peter, ich hab keine Lust, mich nach der Wahl noch um die Altlasten kümmern zu müssen!” Zielstrebig macht sie weiter: “ich will dann nicht meine Zeit mit ein paar Kilometern Radweg verschwenden. Ich will ein ganzes Netz von Haupt- und Nebenrouten, wie es in anderen Städten längst Standard ist. Und so, wie ihr es bereits 2009 im VEK2030 beschlossen habt. Woran hängt das eigentlich immer noch?” Ein besonderes Anliegen sei ihr Plan “nette Politesse” mit dem sie alle Falschparker auf Fuß- und Radwegen konsequent abschleppen lassen werde.

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Von Seiten der öko-sozialen Fraktion die FrAKTION ist man weniger optimistisch. Christoph Ozasek legt Zahlen, Daten und Fakten vor. Man sehe deutlich, wie gefährlich das Radeln auf Stuttgarts Straßen sei. Für die Grünen im Brennstoffzellen-SUV mag das kein Problem sein, aber nicht jeder bekomme so ein Auto aus Untertürkheim gestellt. Andere müssten jetzt erst recht Rad fahren, immerhin würden die Kapazitäten in den Bahnen nicht annähernd ausreichen, um die Leute zur Arbeit zu bringen und Ansteckungen zu verhindern. Ein Lob für die Stadtverwaltung entglitt ihm in dem Zusammenhang dann doch. “Dass die Stadtverwaltung mal so schnell und proaktiv handelt habe ich in meinen bald sechs Jahren als Stadtrat nicht erlebt”. Hannes Rockenbauch schlägt noch vor, das Überholverbot für Radfahrende auch auf Autobahnen anzuwenden, das würde letztendlich dazu beitragen den Welttreibhausgasausstoß zu reduzieren.

In eine ähnliche Kerbe schlagen Martin Körner – auch er kandidiert für das Oberbürgermeisteramt – und Lucia Schanbacher, die radpolitische Sprecherin der SPD. Es kann nicht sein, dass Leute, “die jetzt weiter schaffen müssen und sich keinen dicken Daimler leisten können, stets damit rechnen sollen auf dem Weg ins Geschäft vom Rad geholt zu werden, weil einige Öko-SUV-Fahrer auf ihren Wegen vom Bäcker zurück ins Home Office nicht aufmerksam genug sind.” Körner erwähnt noch, dass er einer der ersten war, die geschützte Radwege für Stuttgart forderte. Technikbürgermeister Thürnau habe schon den Bauarbeiterhelm auf und den Spaten in der Hand, um endlich loszulegen. “Das,” ergänzt Schanbacher “wäre dann auch eine Lösung nicht nur für die Arbeiter, sondern auch für alle Kinder auf dem Weg in die Schule und in die Kita.”

Für die Stadtisten und die Fraktion PULS meldet sich Katharina Doedens zu Wort. Sie fürchtet, dass sie mit den Überholverboten, die nur für Kfz gelten, auf ihrem Rennrad hinter den lahmenden Autos festhängen wird. Auf den Radwegen sind dann die langsamen Radfahrer unterwegs. “Ich finde es klasse, dass immer mehr Menschen aufs Rad finden und damit Stuttgart noch lebenswerter machen” freut sie sich. Nur dann würde es für schnelle RadlerInnen noch schwerer an den Autostaus vorbeizukommen. “Aber was soll man machen? Sicherheit geht vor. Das gilt selbstverständlich auch für Radfahrer.” Ihre Wählervereinigung debattiere derzeit, ob man das Problem nicht unkompliziert lösen könne, indem man einfach Autos in Stuttgart verbiete oder ob es sinnvoller sei, Autos nur noch halb so breit zuzulassen. “In den Autos sitzt selten mehr als eine Person und zu zweit kann man auch gut hintereinander fahren.” Wer mal ein Tandem gesehen habe, wüsste das. “Und wenn die Autos nur noch halb so breit wären, dann ist das Überholen mit 1,5 Metern Sicherheitsabstand selbst an Engstellen wie im Kaltental kaum noch ein Problem”.

Hinten in der äußersten Ecke des Videokonferenzraums steht jemand auf und verschüttet dabei brauen Soße von einem Teller Spätzle. Sibel Yüksel, Fraktionsvorsitzender der FDP, schreitet ein und klärt ruhig und sachlich auf “Nazis raus!”, dann bricht die Verbindung zur Videokonferenz ab. Der Stream wurde gekapert. “Das Passwort war offenbar zu leicht zu knacken!” Im Bild sind nun in Lycra gekleidete Gestalten. Sie tragen bunte Neonwesten und Fahrradhelme mit Lampen und Kameras bestückt. Sie verschränken die Arme und gucken böse. “Vielen Dank und einen wunderfröhlichen 1. April wünschen die pazifistischen Kampfradler vom Zweirat!” dann stürzt das Internet ab.

Zum Hintergrund

Hier beschreibt das Bundesverkehrsministerium alle anstehenden Änderungen in der StVO:
https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Artikel/K/stvo-novelle-bundesrat.html