Stuttgart – Autostadt… Fahrradstadt… welche Stadt?

Autostadt oder Fahrradstadt – was für eine Frage… Warum schränkt man eine Stadt mit Begriffen ein?

Genauso wichtig ist doch z.B. eine Wohnstadt, eine Arbeitsstadt und eine Kulturstadt, aber auch eine Sportstadt, eine Gastronomiestadt und eine Einkaufsstadt. In erster Linie sollte es eine Stadt für uns Menschen sein, und entsprechend sollten wir sie auch gestalten, in allen Bereichen!
Unter den vielen Betrachtungswinkeln auf eine Stadt ist die Mobilität sicherlich ein sehr wichtiger Punkt. Dennoch braucht es keine Autostadt und auch keine Fahrradstadt, sondern eine lebenswerte Stadt, in der man vielfältig mobil sein kann, passend zum jeweiligen Bedarf und dem Umfeld.

Die Autostadt ist nicht die Lösung – dies ist längst offensichtlich und bewiesen –– und auch die Fahrradstadt wird es nicht sein, ebensowenig die Zu-Fuß-Stadt oder die ÖPNV-Stadt. Erst eine gesunde Mischung ermöglicht eine gute Mobilität in einer gleichzeitig lebenswerten Stadt. Die Attraktivität der Mobilitätsform und die gegenseitige Rücksichtnahme aller Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer im öffentlichen Raum erreicht man leichter dann, wenn jeder Mobilitätsform der nötige Platz zugestanden wird. Überall und in gleichem Maße ist das jedoch weder umsetzbar noch sinnvoll. Die Mobilitätsformen müssen dort eingesetzt und ausgebaut werden, wo ihre Vorteile überwiegen, sie müssen sich aber dort zurückziehen, wo ihre Schwächen zum Tragen kommen. So wenig wie Fahrräder auf eine Autobahn gehören, so wenig passen viele Autos in eine enge Innenstadt. Das Fahrradverbot auf Autobahnen und die Einrichtung von Gehwegen hat der Fahrradindustrie nicht geschadet, wieso sollten dann verkehrsberuhigte Innenstädte und Fußgängerzonen der Autoindustrie schaden? Kauft man sich ein Fahrrad für lange Überlandstrecken und ein Auto für die Parkplatzsuche in der Innenstadt?
Wohl eher nein! Setzt man die Mobilitätsformen gemäß ihrer Kernkompetenzen ein, werden sie gestärkt, setzt man sie hingegen falsch ein, schadet man ihnen längerfristig selbst, zumal wenn man sie hartnäckig in einem ungeeigneten Anwendungsbereich zu halten versucht. Erst wenn man sich von festgefahrenem Mobilitätsdenken und alten Strukturen löst, eröffnen sich neue Perspektiven für die Mobilität und für unsere Städte. Man macht sie mobiler und lebenswerter für alle!

„„Stuttgart soll wieder leuchten, wie Frankfurt und München““, hört man im aktuellen Wahlkampf in Stuttgart. Schauen wir doch einmal in diese Städte: In beiden laufen erfolgreich Radentscheid-Initiativen. Frankfurt ist da weit vorangekommen und hat z.B. ein umfangreiches städtisches Informationsportal für Radfahrende eingerichtet. Auch München zeigt jetzt seine Radkultur in einem mitreißenden städtischen Image-Video. Erst recht der europäische Vergleich verdeutlicht, wie sich Großstädte positiv wandeln, wenn sie Platz für Alternativen zum über Jahrzehnte bevorzugten Autoverkehr anbieten: Paris setzt seit Jahren erfolgreich auf mehr Platz für Fuß- und Radverkehr, gibt beiden ausreichenden Anteil und gestaltet die Stadt schöner. Barcelona geht mit seinen Superblocks neue Wege und steigert die Lebensqualität in vielen innerstädtischen Wohnvierteln mit relativ einfachen Mitteln der Verkehrslenkung. Schauen wir nach Oslo, wo die Innenstadt autofrei wurde, nach Städten in den Niederlanden wie Amsterdam, Utrecht und Nijmegen, und blicken wir auf das dänische Kopenhagen: Alle diese Städte haben schon neue und sehr bewährte Mobilitätskonzepte, die nicht in erster Linie auf das Auto setzen, es aber auch nicht gänzlich verbannen. Allgemein gilt hier: Ein vielfältiges Angebot steigert die Vielfalt der Mobilität, ein einseitiges Angebot aber bremst sie aus.
Wir können es uns nicht leisten, in wachsenden Städten der Zukunft auf alte Denkmuster aus der Vergangenheit zu setzen. Eine „„Life-Sized-City““ ist ein globaler Trend. Stuttgart soll da nicht nur mitmachen, sondern muss vorne mit dabei sein! Andernfalls wird unsere Stadt immer schwächer „„leuchten““. Gehen wir es also entschlossen, phantasievoll und tatkräftig an!

Dr.-Ing. Matthias Engel
Dipl.-Mus. Joseph Singer
11/2020

Matthias Engel betreibt die Facebook-Seite Sehr schick – Radfahren in Stuttgart und @Stuttgart_Radschick auf Instagram. Die Bilder wählte er von dort aus.