Warum fahren die Leute so gerne mit dem Auto in die Stadt? Es ist der Komfort: Sie können meist direkt vor ihrem Haus einsteigen und losfahren, mögen den Schutz und die Privatsphäre des auf sie abgestimmten Fahrzeug-Raums, und schätzen die Möglichkeit, individuell und zeitlich ungebunden zu ihrem Ziel und zurück zu kommen. Dabei sehen sie großzügig über die Probleme hinweg, nämlich im Stau zu stehen und einen Parkplatz finden zu müssen – oft fernab vom eigentlichen Ziel. Für all das zahlen sie auch noch ziemlich viel Geld.
Die Probleme, die viele vom Auto geprägte Großstädte wie z.B. Stuttgart haben, lassen sich auch nicht so einfach lösen, denn sie sind ein konzeptionelles Problem: Eine Stadt ist für die Menschen da und soll ihnen Wohn- und Lebensraum bieten. Sie ist also nicht eine unbegrenzte Spielwiese für immer mehr und größere Autos, die immer mehr und größere Straßen und Parkplätze benötigen. Das Auto ist als vorrangiges Verkehrsmittel in der engen Stadt also offensichtlich ungeeignet, doch die Menschen lassen so schwer davon los, weil sie die Vorteile kennen, und die Nachteile elegant zu ignorieren scheinen: Zugeparkter öffentlicher Raum, enormer Platzbedarf des Autoverkehrs, Lärm, Schadstoffe und Gefährdung der Mitmenschen, mitten im Lebensraum der Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner. Sie haben sich in den letzten Jahrzehnten aus ihrem Habitat verdrängen lassen, auf Gehwege, in Parks und in Fußgängerzonen, als Reservate für Menschen in der Stadt. Ein großer Teil des dortigen öffentlichen Raums ist schlichtweg Verkehrsfläche, und den Anwohnerinnen und Anwohnern bleiben Häuser und Gärten – sofern sie so etwas haben.
Gehen Sie einmal bewusst durch eine Stadt und verdeutlichen Sie sich die Dimensionen des rollenden und ruhenden Autoverkehrs. Schauen Sie in die Fahrzeuge, dann werden Sie darin oft nur eine Person sehen. Das Auto ist also massen-, energie- und platztechnisch ein höchst ineffizientes Fortbewegungsmittel!
Ok, Problem erkannt, aber was nun?
Alternative Lösungen sind längst bekannt: ÖPNV, Fahrrad und Zu-Fuß-Gehen! Man muss bessere Mobilität in der Stadt nur wollen und machen, jeder von uns! Warum machen wir das dann nicht einfach, woran fehlt es noch? Schauen wir zurück auf die Punkte, die uns beim Auto in der Stadt als klare Vorteile erscheinen:
Direkt vor dem Haus einsteigen:
Da lachen die Menschen, die in einem dicht besiedelten Innenstadtbezirk wohnen und keinen eigenen Privatparkplatz haben. Für mehr Parkplätze müsste man schon Häuser und Parks plattmachen. So folgt auf die Erinnerung, wo man denn als letztes einen Parkplatz gefunden hat, oftmals ein Fußmarsch ein paar Blöcke weiter. Ein Problem, das Radfahrende nicht haben. Sie finden meist schnell einen Parkplatz, und allein deshalb ist das Fahrrad bei Strecken in der Stadt im Vorteil.
Die Städte und Unternehmen müssen nur ausreichende Fahrrad-Parkmöglichkeiten einrichten, sicher und idealerweise wettergeschützt. In den Wohngebieten sind es kleine verteilte Einheiten, an zentralen Orten wie Bahnhöfen dann große Parkierungsanlagen, auch in vorhandener Infrastruktur.
Was den ÖPNV angeht, gibt es in den Innenstädten oft schon eine vergleichsweise große Haltestellendichte, doch auch in den äußeren Stadtbezirken ist diese nötig, zusammen mit einem dichten und abgestimmten Takt. Vielleicht ja sogar in Form eines Taktfahrplans im ÖPNV, bei dem einem nicht die Anschluss-Bahn vor der Nase wegfährt. In örtlichen und zeitlichen Randbereichen kann das System durch Rufbusse ergänzt werden. Haltestellen-Distanz und Fahrplan-Ende dürfen heute nicht mehr Ausschlusskriterien sein, in der Stadt den ÖPNV zu nutzen! Attraktive Preise müssen das Angebot bestärken. Die Entscheidung dafür fällt auch dann leichter, wenn öffentliche Autoparkplätze entsprechend ihrer Kosten bepreist sind und nicht kostenlos oder für zu geringe Gebühren bereitgestellt werden. Während der Handel oftmals schon die Gebühren beim Parken erstattet, sollte er dies auch bei ÖPNV-Tickets tun.
Schutz und Privatsphäre:
Das Auto als gefühlt sicherer Panzer, wetterfest und abschließbar, ist ein klarer Vorteil des Automobils. Man muss also versuchen, diese Vorteile auf die anderen Verkehrsmittel zu übertragen oder zumindest durch andere Vorteile aufzuwiegen.
Wetterschutz hat der ÖPNV auch, und ist er nahe genug gelegen, dann kommen Sie auch bei Regen mit guter Kleidung und Schirm trocken dorthin. Zumindest auch nicht nasser, als wenn Sie erst Ihr Auto suchen müssen.
Wetterschutz auf dem Fahrrad ist mit guter Kleidung auch möglich, und wenn es gar nicht geht, gibt es ja Bus und Bahn oder das Auto als Alternative. Solche Regentage sind aber wirklich selten. Umso mehr macht es Spaß, sich bei schönem Wetter den Wind um die Nase wehen zu lassen und auf Strecken unterwegs zu sein, die Auto und ÖPNV verschlossen bleiben.
Was die Privatsphäre angeht, sind Sie übrigens auch auf dem Fahrrad und zu Fuß meist allein und selbstbestimmt unterwegs. Es fehlt aber in beiden Fällen der Schutz eines Fahrzeugs. Also muss die Stadt selbst sicher sein, technisch und gesellschaftlich! Das ist ein politisches und gesellschaftliches Thema, das uns alle angeht und auf das wir alle Einfluss haben.
Auf der einen Seite bedeutet das die Einrichtung sicherer und guter baulicher Infrastruktur: Es kann nicht sein, dass Radfahrende und Zu-Fuß-Gehende in ihrem “Lebensraum Stadt” um ihr Wohlergehen fürchten müssen, an den Rand gedrängt vom Autoverkehr. Hier muss die Politik und Verwaltung aktiv werden, mit Nachdruck durch die Bürgerinnen und Bürger.
Auf der anderen Seite ist ein sicheres soziales Umfeld wichtig, ohne örtliche und zeitliche Angsträume. Denn auch die schützende Hülle eines Autos müssen wir dann und wann mal verlassen. Die Stadt muss also für alle sicher sein und sie muss einen Wohlfühlort darstellen, ganz einfach. Das gilt auch für den ÖPNV und seine Stationen: Hier kommen, wie im öffentlichen Raum sonst auch, alle gesellschaftlichen Schichten zusammen, und wir müssen alles dafür tun, dass wir respektvoll und friedlich miteinander und mit unserem Umfeld umgehen, gegebenenfalls mit Unterstützung entsprechender Sicherheitsmaßnahmen. Bilden sich hingegen isolierte Gesellschaftsschichten, dann birgt das Spannungspotential und bringt Konflikte – und das ist dann keine gute Gesellschaft mehr. Niemand will am Ende nur noch dann sicher unterwegs sein, wenn man im Auto eingeschlossen ist.
Zeitlich ungebunden nahe ans Ziel kommen:
Mit dem Auto kommt man zu jeder Zeit überall hin, sagt man. Das mit der zeitlichen Unabhängigkeit mag stimmen, da man nicht an Fahrpläne gebunden ist. Aber wenn Sie im Stau stehen, sehen Sie das anders! Zumal Sie dann nicht wegkommen, sozusagen ans Fahrzeug gefesselt sind, und auch nicht das Auto mitten auf der Straße stehen lassen können, selbst wenn es nur wenige Schritte zum Ziel wären.
Da sind Sie mit dem Fahrrad und zu Fuß schon deutlich besser dran! Sie sind gänzlich frei, kommen wirklich überall in der Stadt hin, können beliebig anhalten und spontan Leute treffen, Besorgungen erledigen oder auch in der Gastronomie einkehren. Sie müssen später auch nicht zum Ausgangspunkt zurück, wo das Auto geparkt ist. Das ist übrigens auch ein großer Vorteil des ÖPNV: Sie haben kein Fahrzeug am Bein und werden sogar chauffiert! Die Fahrzeit können Sie zum Arbeiten, Lesen, Musikhören oder Entspannen nutzen. Wenn der ÖPNV in der Stadt ausgebaut wird, an Zuverlässigkeit gewinnt, sicher und erreichbar ist, spricht eigentlich nichts mehr dagegen.
Beliebige Kombinationen der Verkehrsmittel, unterstützt von Sharing-Systemen und Mitfahr-Möglichkeiten, bringen weitere Vorteile und entlasten sich gegenseitig. Mobilitäts-Apps eröffnen hierbei neue Möglichkeiten. Probieren Sie es einfach mal aus!
Diese Abwägungen zeigen, das kein Verkehrsmittel allein das Optimale ist. Das oft gescholtene Auto ist eine faszinierende technische Errungenschaft mit zweifellos hervorragenden Einsatzfeldern und modernster Technik, auch in Zukunft. Manche Personen, Gewerbe und Institutionen sind zwingend auf diese individuelle Mobilitätsform angewiesen, und auf dem Land sieht vieles auch wieder anders aus, aber beides ist kein Grund, in der Stadt nicht die Mobilitäts-Alternativen zum Auto auszubauen. In der engen Stadt, wo wir den wenigen Platz besser verwenden können und wo es für Personen- und Güterverkehr gute Alternativen gibt, ist das individuelle Kraftfahrzeug selten die Idealbesetzung. Falsche Nutzungsprofile und das Bestehen darauf senken die Akzeptanz und das Image des Automobils und schaden damit auch der Automobilindustrie. Das muss insbesondere auch in der Politik all denjenigen klar sein, die das Auto nach wie vor in großer Zahl in enge Innenstädte drängen. Welchen Raum der Autoverkehr einnimmt können alle sehen, die mit offenen Augen und entsprechend sensibilisiert durch die Stadt gehen. Dabei ist es platzmäßig übrigens egal, welchen Antrieb die Fahrzeuge haben, und auch autonome Fahrzeuge brauchen Platz!
Es geht nicht darum, ob Sie sich als Autofahrende, Radfahrende oder Zu-Fuß-Gehende sehen oder den ÖPNV nutzen. Schon die Bezeichnungen zeigen, dass das letztlich eine unsinnige und künstliche Unterteilung ist. Denn selbst wenn man Auto fährt, muss man erstmal zu Fuß dorthin kommen, und auch Radfahrende müssen normalerweise den ein oder anderen Schritt zu Fuß gehen oder auch mal ein Auto nutzen. In erster Linie sind wir alle Menschen, die Mobilität wollen, in der jeweils bestmöglichen Form. Dafür müssen Politik, Verwaltung und Gesellschaft die Voraussetzungen schaffen, unter Berücksichtigung der jeweiligen Rahmenbedingungen und im Sinne des Gesamtsystems. Wer das ignoriert und radikal an gestrigen und einseitigen Mobilitätsbildern festhält, verpasst schlichtweg den Fortschritt. In wenigen Jahren werden sich Politik, Verwaltung und Gesellschaft an der umgesetzten Mobilitätswende messen lassen müssen. Dann kann niemand sagen, man hätte nicht davon wissen können. Letztlich beginnt die Mobilitätswende bei uns allen, also auch bei Ihnen! Brechen Sie mit gewohntem Mobilitätsverhalten und probieren Sie bitte die Alternativen aus. Viele von uns werden sie schätzen lernen, und dann haben wir alle gewonnen!
Dr.-Ing. Matthias Engel, 2021
Die Abbildungen stammen vom Autor, von den Seiten Sehr schick – Radfahren in Stuttgart auf Facebook und @Stuttgart_Radschick auf Instagram.
Weiterführende Informationen
So begann es in Stuttgart, als man mit immer mehr Straßen auch immer mehr Autos in die enge Stadt holte:
SWR Retro – Abendschau “Generalverkehrsplan der Stadt Stuttgart” 1962
Die Argumentationen und das Vorgehen aus dieser Zeit kommen einem aus heutiger Sicht falsch vor, doch leider scheinen auch heute noch Fehler von damals wiederholt zu werden:
3D Animation Straßenbauprojekt Rosensteintunnel – YouTube